Stell dir als Mutter einmal vor, du müsstest das Kind, das du geboren hast, der öffentlichen Begutachtung aussetzen. Stell dir weiterhin vor, dass jeder Mensch auf dieser Welt das unumstrittene
Recht hätte, dein Kind zu be- und verurteilen, wie es ihm beliebte. Die eine Person vergibt fünf Sterne, weil der Anblick deines Kindes ihr Herz weit öffnet; bei einer anderen reicht die
Begeisterung nur für einen Stern, weil sie dein Kind für eine Missgeburt hält. (Wer möchte, darf seiner Bewertung noch einen Kommentar hinzufügen und der Welt sein Wahl erklären.)
Ich habe zwei Kinder geboren: ein menschliches und ein literarisches. Mit beiden bin ich tief in meinem Herzen verbunden. Allein für mein menschliches Kind jedoch würde ich in den buchstäblichen
Tod gehen, für mein literarisches hingegen nähme ich nur ein metaphorisches Ende in Kauf. ;)
Der erste Band meiner Nachttanz-Trilogie hat in seiner Kindle-Version am 22.4.2022 – also genau heute vor einem Jahr – das Licht der Welt erblickt. Die Taschenbuchausgabe erschien ein paar Tage
früher. Anders als die Geburt meines Kindes war die Geburt meines Buchbabys lang und schwer. Sie wurde nicht nur von großer Vorfreude und Euphorie, sondern auch von harter Kritik, Angst und
regelrechten Panikattacken begleitet.
Ein Jahr nach seiner Erscheinung reichen die Bewertungen von Nachttanz von „überhaupt nicht packend geschrieben, eher langweilig und schleppend; fast schon etwas unerfahren“ bis zu „fesselnde
Handlungsstränge, top-recherchierte Einblicke in verschiedene Kulturen und Zeiten, Spannung, Crime, Verschwörungen, Schmerz, Liebe, es ist alles enthalten“ oder auch „ein Erdbeben, dass uns
wachrütteln kann, ein spirituelles Lehrstück und ein Katalysator für Heilung uralter Traumata gleichermaßen“ sowie „ich habe noch nie ein Buch gelesen, das mich so sehr mit meinen ungeheilten
Wunden, Vorurteilen und meinem Klischeedenken konfrontiert hat. Dieses Werk ist nichts für schwache Nerven. Es triggert dort, wo man nicht mit sich im Reinen ist.“
Was würdest DU tun, wenn DIR das Leben eine „No Choice“-Aufgabe in die Wiege gelegt hätte und es für deren Erfolg zur Bedingung machte, deinen Traum, das metaphorische Kind, das du in die Welt
bringen willst, der öffentlichen Bewertung auszusetzen und mit jeder negativen Kritik ebenso in Frieden zu leben wie mit einem Lob?
Was würdest du tun, wenn das Leben dein Herzblut schon in jungen Jahren kräftig mit jenen Themen vermischt hätte, die weder zu deinem eigenen Kulturkreis noch zum Mainstream der Gesellschaft, in
der du aufgewachsen bist, passen? Was würdest du tun, wenn das Leben von dir Geduld, Demut und den unbedingten Willen zum Erfolg ebenso verlangt wie die vollkommene Hingabe an das mögliche
Scheitern im ganz großen Stil?
Was würdest du tun, wenn ein Teil von dir fest davon überzeugt ist, etwas Bemerkenswertes erschaffen zu haben, etwas, das es in dieser Form bisher noch nicht gegeben hat, während ein anderer Teil
von dir täglich mit den Augen rollt und dich mit beißendem Spott überzieht? (Dieser Teil lehnt bei mir gerade lässig am Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt und fragt mich süffisant, ob
ich mit dem Begriff Imposter-Syndrom etwas anzufangen wüsste ...)
Was würdest du tun, wenn du dir Sichtbarkeit und unverfälschte Anerkennung für „dein Kind“ wünscht, für das du bei genauerer Betrachtung nur das Gefäß bist, durch das es in diese Welt gekommen
ist? Was, wenn du auf sein Leben und Sterben auch in Zukunft wenig Einfluss haben wirst? Wie reagiert dein Ego? (Meines läuft Amok. ;)
Würdest du deinen Weg weitergehen, der sich schon als Kind so klar vor deinen Augen abgezeichnet hat? Auch dann, wenn Jahrzehnte ins Land gehen würden, bevor dein Blickwinkel weit genug wird, die
großen Themen in dir endlich zu Papier zu bringen? Mit den begeisterten Kommentaren jener Menschen im Rücken, die dich vorantreiben wollen, aber immer auch begleitet von den lauten und leisen
Schmähungen, dem eisigen Gegenwind jener, die dich straucheln sehen möchten?
Darf ich als unbekannte Selfpublisherin (Ach du meine Güte! Auch noch eine Selfpublisherin!!) mit Themen, die weit außerhalb der Komfortzone vieler Menschen liegen, versuchen, meine Träume zu
verwirklichen? Ganz bewusst, ohne einen (mich ein- und beschränkenden) Verlag im Nacken sitzen zu haben? Zudem nur mithilfe von Marketingmaßnahmen, die zu 100% zu mir passen?
Darf ich als weiße Europäerin ein (zum Teil) indigenes Thema aufnehmen, mit dem ich mich von Kindesbeinen an beschäftigt habe?
Darf ich mich als studierte Frau in einer Gesellschaft, die den Glauben an Gott, den Glauben eine eine universelle Kraft, zunehmend als „Krücke der Einfältigen“ beiseiteschiebt, hinter eine kluge und weitsichtige Spiritualität stellen? Darf ich als moderne Frau des 21. Jahrhunderts, darf ich als Feministin nicht nur über das Leid der Frauen, sondern auch den Schmerz der Männer in patriarchalen Strukturen schreiben?
Darf ich als Deutsche mein alleiniges Augenmerk vom nationalsozialistischen Terror oder dem Genozid an den Herero und Nama in Namibia abwenden und auf einen unsäglich brutalen Völkermord in einem anderen Land aufmerksam machen, von dem keiner mehr spricht?
Darf ich Leserinnen „triggern“ und sie durch Nachttanz auch mit ihren eigenen Schatten konfrontieren? (Denn nur im radikalen Hinsehen liegt ja bekanntlich das Potenzial für die Heilung alter
Wunden ...)
Meine Antworten lauten: Ja, verdammt nochmal! Denn auf meinem Totenbett möchte ich mir selbst nicht vorhalten müssen, dass ich zwar einen Traum hatte, aber aus Angst vor der Beschämung oder der
Kritik durch andere, keine Schritte unternommen habe, ihn zu verwirklichen.
Wenn ich sterbe, will ich auf mein Leben zurückblicken und mir sagen können: Ja, ich hatte einen großen Traum. Ich habe alles daran gesetzt, ihn so stimmig und authentisch wie möglich für mich zu
verwirklichen. Ich habe mich meiner Vision mit Haut und Haar hingegeben.
Für meinen Traum war ich bereit, die Möglichkeit eines (mich überwältigenden) Erfolgs ebenso bedingungslos anzunehmen wie die Aussicht auf ein spektakuläres Scheitern.
Copyright: Kory Wynykom, 2023
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