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Spiritueller Kolonialismus (am Beispiel von Rumi)

 

 

Was ist zu tun, wenn ich im ersten Band meiner Nachttanz-Tetralogie (aus dem Jahr 2022) an einer sehr zentralen Stelle ein Rumi-Zitat eingebettet habe, dessen verzerrte Übersetzung das Herz meiner Protagonisten weit öffnet, während das Originalzitat diesen Effekt nicht gehabt hätte?

 

 

“Out beyond ideas of rightdoing and wrongdoing, there is a field.  I will meet you there.”

 

„Draußen, jenseits der Vorstellungen von Richtig und Falsch, liegt ein Feld. Dort werden wir uns treffen.“

 

 

Die Worte, die Rumi im Original schrieb, waren iman ("Glaube / Glaubensüberzeugung") und kufr ("Unglaube") und nicht „rightdoing“  und „wrongdoing“!

 

 

Rumi scheint also zu sagen, „dass die Grundlage des Glaubens nicht im religiösen Kodex liege, sondern in einem erhabenen Raum des Mitgefühls und der Liebe.“ (Rozina Ali)

 

 

Das ist eine recht herzoffene Interpretation, die dem Grundtenor des verzerrten Zitats zwar ähnelt, dessen universelle Gültigkeit aber (über einen religiösen Kontext hinaus) stark einschränkt.

 

 

In einem Artikel von Rozina Ali im The New Yorker von 2017 („The Erasure of Islam from the Poetry of Rumi”) erfuhr ich heute, dass die Leser im Westen im viktorianischen Zeitalter damit begannen, die mystische Poesie Rumis von ihren islamischen Wurzeln zu lösen. Die Übersetzer und Theologen jener Zeit konnten ihre Vorstellungen von einer "Wüstenreligion" mit ihren ungewöhnlichen moralischen und rechtlichen Regeln nicht mit dem Werk von Dichtern wie Rumi in Einklang bringen.

 

 

Im 21. Jahrhundert kursieren diverse Versionen von Rumi in der Welt, vor allem in den populären (amerikanischen) Übersetzungen von Coleman Barks. Noch weiter als Barks Übersetzungen, sind, laut Rozina Ali, die Bücher von Deepak Chopra von Rumis ursprünglichen Worten entfernt.

 

 

Chopra selbst gibt zu, dass seine Gedichte nicht Rumis Worte sind. Vielmehr seien sie "Stimmungen, die wir eingefangen haben, als bestimmte Phrasen, die aus dem ursprünglichen Farsi strahlten, um einer neuen Schöpfung Leben einzuhauchen, aber die Essenz ihrer Quelle beizubehalten." (Aus Chopras Einleitung zu "The Love Poems of Rumi").

 

 

Zu den New-Age-Übersetzungen sagt Omid Safi, Professor für Nahost- und Islamstudien, im New Yorker: "Ich sehe hier eine Art 'spirituellen Kolonialismus' am Werk: das Umgehen, Auslöschen und Besetzen einer spirituellen Landschaft, die von Muslimen von Bosnien und Istanbul über Konya und den Iran bis nach Zentral- und Südasien gelebt, geatmet und verinnerlicht wurde."

 

 

"Der Rumi, den die Leute lieben, ist im Englischen sehr schön, und der Preis, den man dafür zahlt, ist, dass man die [islamische] Kultur und Religion beschneidet", bringt es Jawid Mojaddedi, ein Gelehrter des frühen Sufismus, für den The New Yorker auf den Punkt.

 

 

 

Was mir als Autorin nach meinem Fauxpax jetzt übrigbleibt, sind zwei Optionen:

 

 

1. Ich streiche oder verändere die Stelle mit dem verzerrten Rumi-Zitat in meinem Roman und veröffentliche das Buch neu.

 

 

2. Ich lasse alles so, wie es ist und gebe meinen Protagonisten die Möglichkeit, die wahre Bedeutung des Zitats im Verlauf der weiteren Romanhandlung herauszufinden und dabei die hochspannende Thematik des ‚spirituellen Kolonialismus‘ auf sich wirken zu lassen.

 

 

In waschechter Nachttanz-Manier kann es hier nur eine Lösung geben. 😉

 

(Weißt du welche?)

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Brigitte (Donnerstag, 21 März 2024 13:37)

    Es kann nur die 2. Lösung sein. :)

  • #2

    Kory Wynykom (Montag, 25 März 2024 06:48)

    Liebe Brigitte,

    da hast du absolut recht! :)

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