Nachttanz: Schattenwelten (Band 1)
Prolog
© Kory Wynykom (2022)
Routiniert versetzt ihr Vater sie in Trance. Es ist nicht die erste Reise in eine andere Dimension, die der Professor mit seiner Tochter unternimmt. Der heutigen
Hypnosesitzung haftet jedoch gleich zu Beginn ein Schatten an. Die Entspannungssuggestionen entfalten in Rekordzeit ihre Wirkung. Innerhalb von Sekunden breitet sich eine bleierne Ruhe über Zayla
aus. Tief atmet sie den Geruch von Moos und feuchter Erde ein. Woher kommt er? Wo befindet sie sich?
Der Teil von ihr, der auch in Hypnose wach und ansprechbar bleibt, registriert, dass ihr Vater die Rückführung zu den Szenen ihrer Kindheit überspringt. Auch die
nächste Etappe, die einige Eindrücke und Stimmungen von vor ihrer Geburt im Bauch ihrer Mutter abruft, streift er nur kurz. Als er sie bittet, erneut in ein vergangenes Leben einzutauchen, das
für sie von besonderer Bedeutung ist, rauschen Bilder, die sie längst kennt, wie in einem zurückgespulten Film an ihr vorbei. Sie runzelt die Stirn.
„Was siehst du?“, erkundigt sich der Professor.
„Die Leben, die wir uns bereits angeschaut haben.“
Zayla vernimmt sein überraschtes Schnauben.
Im Schnelldurchlauf sieht sie sich nicht nur ein weiteres Mal als Diebin, als Bettlerin, als Opfer von Völkermord und Vertreibung, sondern auch als mordende
Kriegerkönigin und fintenreiche Priesterin. Am tiefsten, hat sie festgestellt, sind jene Leben in ihr verankert, die ihr ihre ganze Kraft abverlangt haben.
„Ist es vorbei?“
Zayla nickt.
„Schau an dir herunter“, bittet ihr Vater sie. „Welche Kleidung trägst du diesmal?“
Als ihre Antwort ausbleibt, fordert er sie auf, umherzuschauen. „Befindest du dich drinnen oder draußen? Bist du allein oder mit anderen zusammen?“
„Mit anderen zusammen“, flüstert sie und fühlt ein kleines Kind in ihren Armen liegen.
Obwohl Zayla sich die Erlaubnis gibt, tief und ungefiltert in ihre Erinnerungswelten einzutauchen, zuckt sie zusammen, als der grausame Bilderregen auf sie
niederprasselt.
Soldaten und Zivilisten, die ein Lager angreifen! Sie sieht lederne Zelte, die in Flammen stehen. Das Abschlachten der Dorfbewohner, Kinder, die um ihr Leben flehen.
Säuglinge, die den Armen ihrer Mütter entrissen und deren Köpfe an Felsen zerschmettert werden. In panischer Angst hält sie eines der Kinder fest umklammert. Zayla erblickt Ungeborene,
herausgeschnitten aus den Körpern der Schwangeren. Mädchen und Frauen, die vergewaltigt werden und denen die Angreifer die Brüste abschneiden. Das blutrünstige Spiel der Bestien mit ihrer
Beute.
Inmitten des Gemetzels steht ein einzelner Soldat regungslos neben der Leiche seines Pferdes. Beim Anblick der Männer im Blutrausch, die triumphierend mit den
herausgeschnittenen Genitalien ‚stinkender Rothäute‘ an ihm vorbeireiten, erbricht er sich.
Zayla atmet schwer und ihr Puls rast. Die Szene bricht ab und wechselt zu einer eisigen Schneelandschaft in den nördlichen Prärien viele Jahre später. Sie hört den
Wind tosen und die Wölfe heulen. In blutroten Farben versinken die letzten Strahlen der untergehenden Sonne am Horizont.
Ihr Blick fällt auf den von der langen Hetzjagd gezeichneten Krieger. Er ist sehnig und hager, aber größer als die meisten Männer. Hochaufgerichtet steht er im
Schnee, die Hände an den Waffen, bewegungslos wie ein Steinbild. Nur seine stechenden Augen huschen zwischen seinen eigenen Männern und den Blauröcken, die ihn umstellt haben, hin und her.
Unruhig rutschen die Kavalleristen in ihren Sätteln herum. Ihre Pferde schnauben und tänzeln. Die Anspannung der Soldaten ist mit den Händen zu greifen.
Wie die Tiere wurden der Häuptling und seine Leute durch ihre alte Heimat gejagt und kurz vor der kanadischen Grenze gestellt. Die Gruppe, die er führt, besteht nur
noch aus einer kleinen Schar von Kriegern und einer Überzahl an Frauen und Kindern. Das Überleben der Schutzlosen ist der einzige Grund, der den Häuptling zögern lässt. Nur wenn die Frauen und
Kinder verschont bleiben, ruft er dem befehlshabenden Offizier zu, werden er und seine Männer darauf verzichten, kämpfend in den Tod zu gehen.
Zayla blickt in die fiebrigen Augen des Anführers, dann auf die Soldaten. Sie kann die Wellen des Hasses fühlen, die über ihm zusammenbrechen; die Lynchlust der
Blauröcke. Sie spürt die Verzweiflung des Häuptlings über die Ausweglosigkeit seiner Situation. Zahllose Male hat er in seinem Leben bereits dem Tod und dem Teufel getrotzt. Die bittere
Niederlage aber, so kurz vor der rettenden Grenze, ist mehr als er ertragen kann. Er gleicht einem Verhungernden, dem die Nahrung in Blickrichtung, aber wie zum Hohn außer Reichweite gestellt
wurde.
Zaylas Augen zucken suchend umher. Wo ist der Verräter? Ihr Blick bleibt an einem der indianischen Scouts hängen, die die Armee für ihre Hetzjagd angeheuert hat.
Triumphierend bewegt sich der Verräter auf den Häuptling zu. Die Frauen und Kinder werden sterben, wenn du dich nicht freiwillig entwaffnen lässt, bellt er.
Der Anführer lässt sein Gewehr in den Schnee fallen. Der Bogen folgt, dann der Köcher mit den Pfeilen, dann die Kriegskeule: ein Schädelbrecher. Drohend richtet der
Scout den Revolver auf eines der Kinder. Der Häuptling spuckt aus und wirft auch sein Messer auf den Boden. Es ist eine ungewöhnlich schöne und aufwendig gearbeitete Waffe, deren Griff die Form
eines schwarzen Wolfkopfes besitzt. Gierig greift der Verräter nach ihr. Einen Moment lang richtet der Häuptling seine Aufmerksamkeit auf die Frauen. Seine Augen schimmern feucht. Dann wendet er
den Kopf zurück zum Scout und sein Mienenspiel wird zu einer undurchdringbaren Maske. Er blickt über seine Feinde hinweg in den blutroten Abendhimmel und stimmt sein Sterbelied an.
Urplötzlich springt der Häuptling mit einem gewaltigen Satz auf den Verräter zu. Die Soldaten geraten in Aufruhr. Mehrere Schüsse krachen. Der Krieger ist getroffen,
wankt, aber richtet sich wieder auf. Hasserfüllt stößt ihm der Scout das Bajonett in die Seite. Der Anführer bricht zusammen und stürzt röchelnd in den Schnee. Ein schriller Siegesruf ertönt aus
der Kehle des Mörders und durchdringende Schreie aus den Reihen der Frauen.
Auch Zayla schreit, aber ihre Kehle ist wie zugeschnürt. Kein Ton entweicht ihr, während ihr Körper sich auf der Couch dreht und windet. Tränen rollen über ihre
Wangen. Ihr Vater legt eine Hand auf ihren Arm. Sie hört seine Versuche, sie aus der Hypnose zurückzuholen, aber sie greifen nicht. Alles in ihr widersetzt sich einer Rückkehr. Erst als der
Professor sanft, aber unablässig auf sie einredet, sich an den Ort zurückzuziehen, den sie für diese Reise als sicheren Hafen benannt hat, versiegen ihre Tränen. Ihr Puls normalisiert
sich.
Dann kehrt sie auf die schneeverwehte Prärie zurück.
Tränenverhangen blickt sie in die Augen des kommandierenden Offiziers. Mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung des Kopfes nickt der Colonel ihr zu. Er liebt sie noch
immer, stellt sie fest, aber sie wünscht sich seinen Tod. Seine Männer murmeln Hexe, als sie sie wiedererkennen. Zusammen mit den beiden anderen Frauen des Häuptlings kniet sie neben dem toten
Anführer nieder. Die Witwen bringen sich zum Zeichen der Trauer Wunden an Armen und Beinen bei und schneiden ihre langen Haare ab. Unablässig wiegen sie ihre Körper im Schnee. Aus ihren Kehlen
ertönt ein Klagegesang, der so dumpf und schwermütig durch die eisige Winterlandschaft hallt, dass selbst das Heulen der Wölfe und das Toben des Windes verstummt. Die Natur lauscht dem Kummer
eines besiegten Volkes und seinem Wiegenlied des Todes.
Zayla vernimmt das scharfe Einatmen ihres Vaters, als sie zu summen und dann in einer Sprache zu singen beginnt, die sie nie gelernt hat. Ihr Vater hält ihre
Hand.
„Bist du bereit, zu dem Moment zu wechseln, in dem du dieses Leben wieder verlässt?“
Zayla bejaht. Ein Friedhof taucht vor ihren Augen auf, ein Feld, übersät mit weißen Holzkreuzen. In seiner Mitte lässt sie sich erschöpft nieder und bittet ihren
über einhundertjährigen Körper zu sterben. Es ist ein schneller und friedvoller Tod.
„Was passiert nun?“, fragt ihr Vater.
„Ich beginne, mich aus diesem Avatar zu lösen“, flüstert sie. „Jede Last ist von mir abgefallen … und ich gleite nach oben.“ Sie wirft einen letzten Blick auf den
Körper, den sie verlassen hat und empfindet Erleichterung und Freude.
Als Zayla sich umdreht, stößt sie auf ihre Mutter, die sie wortlos umarmt. Lächelnd nimmt sie ihre Tochter an die Hand und begleitet sie ein Stück des Weges. In der
Nähe einer Waldlichtung verabschiedet sie sich wieder von ihr. Um ein prasselndes Lagerfeuer herum sieht Zayla den Colonel und den Häuptling zusammen mit dem Mörder sitzen. Zu ihnen gesellen sich
der Soldat, der sich während des Massakers übergeben hat, der Bruderfreund des ermordeten Anführers und seine Großmutter.
Zayla tritt auf die kleine Gruppe zu. Sie sieht den Mörder mit den Achseln zucken.
An dem Massaker bin ich nicht beteiligt gewesen, hört sie ihn sagen. Aber ich habe dazu beigetragen, die sandhaarige Hexe in den Wahnsinn zu treiben.
Zayla legt den Kopf zur Seite und blinzelt ihn an. Etwas, das dir kein zweites Mal gelingen wird, entgegnet sie ruhig.
Der Bruderfreund des ermordeten Häuptlings und der Colonel greifen nach ihrer Hand. Die Großmutter kichert und zieht die drei mit derart derben Sprüchen auf, dass
sie ihnen die Röte auf die Wangen treiben.
Der Mörder blickt Zayla herausfordernd an. Willst du es nicht noch einmal versuchen? Bisher hast du nicht in deine alte Stärke zurückgefunden, stichelt
er.
Die Großmutter nickt zustimmend und kneift Zayla zärtlich in die Wange. All das, was du erreichen wolltest, Kind, ist noch lange nicht auf den Weg gebracht, sagt
sie.
Die beiden Blauröcke hier, sagt der Verräter lachend, warten nur darauf, eine neue Chance zu bekommen. Während diese beiden, er deutet auf den ermordeten Häuptling
und dessen Bruderfreund, nicht weniger vorhaben als die Weltgeschichte neu zu schreiben.
Ich werde darüber nachdenken, murmelt Zayla. Sie schlendert in Richtung des sattgrünen Laubwaldes am Lichtungsrand. Sie will mit ihren Gedanken allein sein. Wind
kommt auf. Mit geschlossenen Augen lauscht sie dem Rauschen der Baumwipfel.
Als sie die Lider wieder öffnet, blickt sie auf ein mächtiges Kreuz aus dunkelgrauem Stein. Es thront auf einem Felsblock, an dem sich der Waldweg vor ihr gabelt.
Ein kleines Mädchen löst sich aus dem Schatten des Kreuzes und schlendert auf Zayla zu. Es trägt einen Wichtelmantel aus dunkelblauem Fleece mit Zipfelkapuze und bunten Blumen und lächelt
zaghaft. Als sie sein Lächeln erwidert, strahlt es über das ganze Gesicht. Ein Gefühl tiefer, allumfassender Liebe überschwemmt Zayla und minutenlang badet sie darin wie in einem Jungbrunnen. Sie
geht in die Knie und zieht das Mädchen an sich. Tiefe Trauer durchbohrt ihr Herz. Zur selben Zeit fühlt sie ein Zerren wie an einer unsichtbaren Schnur.
Sie schnappt aus der Hypnose als hinge sie an einem Gummiband, das man gespannt und wieder losgelassen hat. Von einer Sekunde auf die andere wird sie in ihren Körper
zurückgezogen. Sie fühlt wieder die Couch, auf der sie ruht, ihre Arme und Beine. Zayla weiß sich im Haus ihres Vaters, im englischen Seebad Brighton, und schlägt die Augen auf. „Papa“, flüstert
sie und wirft dem überraschten Professor die Arme um den Hals, „Nell wurde ermordet.“